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„Wenn ich euch das erzähle, rieche ich wieder den Rauch von Auschwitz“


„Es ist geschehen, und deshalb kann es wieder geschehen“. Mit diesen Worten Ellie Wiesels eröffnet Ulrich Walter, stellvertretender Schulleiter der GST, einen denkwürdigen Vortrag von Dita Kraus im großen Raum der GST am 19. Januar 2024. Der Arbeitskreis Demokratische Schule hat die Veranstaltung organisiert, über hundert Schülerinnen und Schüler hören gebannt zu. Dita Kraus meldet sich per ZOOM-Link aus Prag, wo sie derzeit wohnt. In Prag ist sie 1929 auch geboren worden. „Erst mit acht Jahren habe ich erfahren, dass ich Jüdin bin“ sagt sie zu Beginn ihres einstündigen Vortrages. Als Einzelkind aufgewachsen, hatte sie überhaupt keinerlei Kontakt zum Judentum, ihre Eltern waren nicht religiös. Im März 1939 marschierten deutsche Truppen in Prag ein,  Ditas Vater wurde entlassen. Nach einem Monat traten zwei deutsche Offiziere in die Wohnung und beanspruchten sie für sich. Innerhalb von zwei Monaten nach der Okkupation war die Familie ohne Wohnung und ohne Einkommen. Die Bankkonten wurden bald beschlagnahmt, immer neue Restriktionen wurden von den deutschen Besatzern auferlegt. „Jedes Mal mussten wir etwas abgeben, Radio, Gold und Silber, Sportgeräte, Tiere. Es gab kein Kino mehr, keinen Park und kein Theater“, so beschreibt die 94jährige den Terror der Nazis.

Holocaust-Überlebende Dita Kraus in einem Archivbild aus IsraelNur ein Ort war noch erlaubt: Ein Spielplatz in Prag, wo ein talentierter deutscher Jude, Fredy Hirsch, mit den jüdischen Kindern, die auch nicht mehr zur Schule gehen durften, Sportspiele veranstaltete. „Wir Kinder liebten ihn“, sagt Dita Kraus. „Das war das einzige Licht in einem dunklen Leben.“

1941 begannen die Transporte in den Osten. Ein Onkel von Dita wurde als erster deportiert, nach Lodz. Seine Frau Mania, wie er Lehrer, hatte sich von ihm scheiden lassen, weil sie selbst für den tschechischen Untergrund tätig war. Sie wollte ihren geliebten Mann nicht gefährden. Ein fataler Fehler. „Wären sie nicht geschieden gewesen, so wäre er noch geschützt gewesen. Die Ehepartner von Nichtjuden wurden erst ganz am Ende des Holocaust in Konzentrationslager geschickt und kamen meist lebend zurück“, so Kraus. Doch Onkel Ludwig, der Dita unterrichtet hatte, war nach wenigen Wochen tot. „Ich war sehr traurig. Ich hatte ihn sehr lieb“, sagt Kraus.

 Im Sommer 1942 war auch für Dita Kraus und ihre Eltern das Leben in Prag vorbei: Die Familie erhielt einen Zettel, durfte 50 Kilo Gepäck mitnehmen und wurde im November 1942 nach Theresienstadt gebracht.  Der Ort ist nur 60 Kilometer von Prag entfernt. Die ganze Stadt wurde von tschechischen Bewohnern geleert und war nun ganz jüdisch. Das Ghetto wurde von der jüdischen Gemeinde geleitet, die  SS-Kommandanten sah man kaum. Alle bekamen eine Suppe und ein oder zwei Kartoffeln zum Mittagessen und alle zwischen 14 und 60 Jahren mussten arbeiten. Allerdings war der Ort hoffnungslos überfüllt: Statt 6000 Menschen, für die die Kasernen gebaut worden waren, lebten bis zu 60.000 Menschen im Ghetto. Dita Kraus wohnte in einem Mädchenheim, welches dank  Fredy Hirsch exisitierte, da er auch dort seine natürliche Autorität im Umgang mit den Nazis zeigte. In Theresienstadt gab es unter den Häftlingen viele jüdische Künstler, Musiker, Maler und Dichter, die an den Abenden  eindrucksvolle Programme in den Höfen entfalteten. Trotz der katastrophalen hygienischen Zustände, es gab nicht genug Wasser, kaum Elektrizität, Läuse, Wanzen und Flöhe, gab es noch „freudige Momente“ im Leben der Bewohner. „Es lief noch auf einem menschlichen Niveau ab“, sagt Dita Kraus.

Das änderte sich jedoch schlagartig im Herbst 1943. Die Familie bestieg einen Viehwaggon nach Auschwitz. „Wir wurden so hineingepfercht, dass die Türen kaum zugingen“, sagt Kraus. Wir standen aneinandergepresst, ohne Fenster, ohne Bänke, ohne Toiletten. „Hier begann der Holocaust, das menschliche Leben hatte keinen Wert mehr.“

Die Fahrt dauerte einen Tag und eine Nacht, unterwegs blieb der Zug öfter stehen. Dann gingen die Türen plötzlich auf, Männer mit Stöcken und Hunden trieben die Menschen aus den Waggons. Sie marschierten in eine Holzbaracke, dort mussten sie sich nackt ausziehen, duschten mit eiskaltem Wasser, ohne Kleider, ohne Handtuch mussten sie in eine andere Baracke laufen. Dann gab es alte Zivilkleidung, nicht nach Größe, sondern irgendetwas von einem Haufen. Dann wurden alle tätowiert. Dita Kraus bekam auf dem linken Arm Nummer 73305. „Seit dieser Zeit waren wir namenlos, nur noch Nummern.“ Die ganze Prozedur dauerte drei Tage, ohne Nahrung, ohne Wasser. Dann kamen sie in eine Baracke in Birkenau, BIIb.

Dieses sogenannte tschechische Familienlager war eine Besonderheit: Offenbar sollte es dazu dienen, im Notfall die kursierenden Gerüchte vom Holocaust bei den Alliierten zu widerlegen. Deshalb plante die SS unter Heinrich Himmler, dass eine Delegation des Int. Roten Kreuzes im Sommer 1944 Theresienstadt besuchen durfte. Um die Gerüchte über den Holocaust zu widerlegen, wurde die Deportierten aus Theresienstadt in Auschwitz einige Zeit am Leben erhalten, um so notfalls bei Nachfrage den Holocaust leugnen zu können.

Als Dita Kraus ihren Vater nach drei Tagen wieder sah, Männer und Frauen waren sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz voneinander getrennt worden, erschrak sie. „Ich sah meinen Vater und erkannte ihn kaum. Er war leblos, ohne Energie, schon nicht mehr derselbe Mensch.“ Er starb im Februar 1944. „Aber auch die übrigen Bewohner des Lagers war alle so komisch. Augen ohne Ausdruck, sie schleppten sich und zeigten ständig auf die Schornsteine. Die Menschen kamen an in Transporten, wurden in den Gaskammern ermordet und  die Leichen verbrannt. Aus diesen Schornsteinen kam der Rauch mit der Asche.“

Der Hunger in Auschwitz war unerträglich. „Einmal am Tag gab es eine Suppe, ein Stück Brot, etwas Margarine. Zum Trinken braunes Wasser, ungezuckert. Wer drei Monate dort war, war völlig abgemagert. „Das einzige Licht war ein Kinderblock“. Der war in einem der 32 Baracken des tschechischen Familienlagers untergebracht. Ditas Aufgabe war es bald, unter dessen Leiter, Fredy Hirsch, die ca zwölf Bücher den Leitern jeder Gruppe zu leihen. Die waren im Gepäck der ankommenden Juden aufgetaucht, und wurden heimlich in den Kinderblock gebracht. „Die Bücher halfen etwas, mit den Kindern zu spielen, mit Buchstaben zu spielen“, so Kraus. Im März 1944, ein halbes Jahr nachdem der Transport mit Fredy Hirsch angekommen war, wurden diese Menschen auf Lastwagen gepackt und in der Gaskammer ermordet. Dita Kraus und ihre Mutter wussten nun, dass ihnen und dem ganzen Transport im Juni 1944 das gleiche Schicksal drohen würde. Ihr Glück war jedoch eine Selektion kurz zuvor. Dr. Josef Mengele persönlich überwachte sie, Menschen zwischen 16 und 40 wurden für Arbeitslager in Deutschland selektiert. Sie mussten sich nackt ausziehen und an Mengele vorbeigehen. Dita sagte: „73305, 16 Jahre, Malerin.“  Sie und ihre Mutter wurden zum Transport eingeteilt. Insgesamt 1500 Frauen fuhren dann mit dem Zug nach Deutschland. „Wir hatten wieder Hoffnung. Wir waren in einer Stadt, es gab keine Gaskammern.“ Der Hunger begleitete sie, sie mussten schwer arbeiten, Schnee schaufeln, zu Fuß, in Holzpantoffeln. Doch die Bombennächte in Hamburg zeigten ihnen, dass das Ende des Naziregimes nur eine Frage der Zeit war. Sie überlebten zwei Außenlager, darunter Neugraben bei Hamburg. Dann, im März 1945, wurden Dita und ihre Mutter nach Bergen-Belsen gebracht. „Man denkt es kann nicht mehr schlimmer werden, aber es wurde noch schlimmer,“ sagt sie. Dort gab es Berge von Toten. In den zehn Tagen, in denen sie vor der Befreiung dort war, starben weitere Tausende. „Überall lagen Tote herum. Meine Mutter hatte schon aufgegeben. Ohne Wasser, ohne Nahrung. Meine Mutter wollte nicht mehr.“ Doch gemeinsam mit ihrer guten Freundin Margit konnte Dita Kraus die Mutter überreden, sich nochmals anzustrengen, um am Leben zu bleiben. Dann hörten sie plötzlich eines Morgens Lautsprecher. „Wir sind die britische Armee, wir kommen, um euch zu befreien.“

Die Frauen kamen in ein Quarantänelager und begannen ganz langsam wieder zuzunehmen. Doch Ditas Mutter musste Ende Juni ins Krankenhaus und starb. Danach fuhr Dita Kraus mit einem Bus zurück nach Prag, ohne Vater, ohne Mutter. Sie war 16. Sie ging zu ihrer Tante Mania, „die behütete mich noch einige Zeit“.

„Wenn ich euch das erzähle, spür ich den Geruch und den Rauch, alles kommt zurück,“ sagt Kraus.

„Was gab Ihnen Hoffnung, nicht aufzugeben?“, fragt ein Schüler der Klasse 12 zum Abschluss. „Wenn man jung ist, hofft man immer weiter“, sagt Dita Kraus. „Wenn ihr Leute trefft, die nicht glauben, dass es einen Holocaust gegeben hat, dann müsst ihr Ihnen sagen, dass ihr es von einer Überlebenden wisst, dass es den Holocaust gab. Man kann es nicht leugnen“, ist ihr Appell zum Abschluss an die Schülerinnen und Schüler der GST.

 
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