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„Den Gefallen zu heulen tue ich Euch nicht!“


„Heute vor 100 Jahren hat Adolf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller die Nationale Revolution ausgerufen“, erinnert Florian Kubsch, Lehrer für Englisch und Geschichte mit Gemeinschaftskunde an der GST, an die geschichtliche Dimension dieses Tages. Der Putsch war zwar noch in dieser Nacht gescheitert, aber zehn Jahre später war Hitler trotzdem an der Macht, ganz legal, mit furchtbaren Konsequenzen. Am 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen und 1300 Jüdinnen und Juden verloren an diesem Tag ihr Leben, der Auftakt des Holocaust, in dem rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden grausam ermordet wurden.

Zeitzeugin Ruth Michel vor einer Landkarte„Ich will den Ermordeten des Holocaust und des Dorfes Mikuliczyn eine Stimme geben“, sagt die 95jährige Ruth Michel mit klarer Stimme. Sie lebt heute in Leinfelden-Echterdingen. 1935 war sie mit ihren Eltern in die kleine Stadt Mikuliczyn gezogen, die damals noch zu Polen gehörte. Ein Sanatoriums-Ort, in dem Ukrainer, Polen und Juden friedlich zusammenlebten. „Das war ein hartes Jahr“, sagt die 95jährige im Rückblick. Ständig sei sie von Mitschülern ausgelacht worden, weil sie kein Polnisch sprach. „Den Gefallen zu heulen tue ich Euch nicht“, habe sie damals beschlossen. Und stattdessen ein Jahr lang geschwiegen. In der zweiten Klasse sprach sie fließend Polnisch. „Ich habe gelernt zu kämpfen“, sagt sie über dieses Jahr. Ihr Vater war Jude, er hatte die Situation in Königsberg nicht mehr ertragen, nachdem Juden 1935 mit den sog. Nürnberger Rassegesetzen von den Nationalsozialisten zu rechtlosen Bürgern erklärt worden waren. Also war die Familie in die Heimat seiner Mutter gezogen, einer frommen, orthodoxen Jüdin. Aber Ruth Rosenstock, wie sie damals noch hieß, hatte frühzeitig eine Strategie: „Ich wollte Klassenbeste werden, denn dann lachte niemand mehr“, sagt sie heute.

 Im September 1939, nach dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Beginn des zweiten Weltkrieges wurde der Ostteil Polens, also auch Mikuliczyn, von den Russen besetzt. Die respektierten die Rechte der Juden. Dann im Juni 1941 überfiel Deutschland Russland, der Krieg kam nach Mikuliczyn, ein tieffliegendes Flugzeug beschoss die Bevölkerung. Wenig später bezogen sechs Gestapo-Leute ein polnisches Gut und rekrutierten ukrainische Helfer. Diese begannen, die Juden in Mikuliczyn zu terrorisieren. „Nachts wurden die Fenster eingeworfen“, berichtet Ruth Michel. Dann kam der 9. Dezember 1941: „Die holen gerade alle Juden im Sägewerk ab“, hörte Ruth Michel von Passanten. Die damals 13Jährige wusste, dass jetzt ihr Vater in größter Gefahr war, der seit kurzem dort arbeitete. Sie rannte, bepackt mit Broten, zum Sägewerk. Dort standen ein Gestapo-Mann und ukrainische Hilfspolizisten: „Was will denn die hier?“ fragte der Wachmann. Dem Vater das Essen bringen, übersetzte der Ukrainer dem Deutschen. „Die kann später wiederkommen, wenn wir mit den Juden fertig sind“, sagte der Gestapo-Mann. In derselben Nacht wurden alle Juden des Dorfes verhaftet, die ukrainischen Bewohner hatten den Deutschen die Häuser gezeigt. Ruth Rosenstock, ihre Schwester und ihre Mutter hatten sich im Wald versteckt.

Drei Tage wurden die Menschen in winzige Zellen des Gemeindegefängnisses gesperrt. Babys und Kleinkinder starben auf den Armen ihrer Eltern. „Deutsche Männer haben sich dieses unmenschliche Szenario ausgedacht“, sagt Ruth Michel. „Dann waren die Gruben ausgehoben.“ Für den Transport im LKW müssen sich die Menschen übereinander auf die Pritschen legen, dann werden sie mit einer Plane zugedeckt. Vor der Grube müssen sie sich nackt ausziehen, ihre Personalien angeben und am Rand der Grube niederknien. Dann werden sie mit einem Genickschuss erschossen, insgesamt 205 Menschen. „Stellen Sie sich vor, was diese Menschen dachten, als sie barfuß im Schnee standen und sahen, jetzt wird meine Mutter erschossen und gleich bin auch ich dran.“

Im Raum 47 der Gewerblichen Schule herrscht betroffenes Schweigen.

Erst 2010 ist sie in die Ukraine zurückgekehrt, hat das Massengrab gesucht und auch gefunden. Das Dorf war nicht wiederzuerkennen, die jüdischen Spuren beseitigt. Immerhin gab es auf dem Friedhof einen Findling mit einer Steinplatte, den ein anderer jüdischer Überlebender, der rechtzeitig über Rumänien geflohen war, errichten ließ.

Ruth Rosenstock hat auch ein Buch über ihre Geschichte geschrieben. „Die Flucht nach vorne“ ist in der Edition Fischer, Frankfurt/Main erschienen und kostet 15€.

Was möchten Sie den Schülern von heute noch sagen, fragt Florian Kubsch zum Abschluss der rund 30minütigen Lesung. „Lest Zeitung, hört Radio und lauft nicht der Masse hinterher“, sagt die 95Jährige.

 
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