"Die DDR war ein schizophrener Staat.“
Sein erster Kaufhausbesuch ist Gunnar Huste noch in guter Erinnerung: Das war kurz nach der Maueröffnung im November 1989. „Es war aus heutiger Sicht nichts Weltbewegendes“, so der 54jährige am Donnerstag, 15. Dezember vor Schülern der Klasse 13/3 an der GST. „Ich bin in das Kaufhaus rein, ein Hertie glaube ich, die Rolltreppe hochgefahren, dann die Rolltreppe wieder runtergefahren und hab mich erst mal auf eine Bank gegenüber des Kaufhauses gesetzt. Ich war K.O.“ Erschlagen von der Reizüberflutung dieses Konsumtempels, den es so in der DDR nicht gegeben hatte.
Huste ist 1968 in Crimmitschau zur Welt gekommen, einer Kleinstadt mit rund 20.000 Einwohnern in der Nähe von Zwickau. Hier gab es ein eigenes Eisstadion, ein Kino und auch eine Eishockeymannschaft, mit der Gunnar Huste als Fan kurz nach der Wende Bayernmeister wurde. „Ich hatte eine schöne Kindheit“, sagt er. Sein Opa war selbstständiger Seiler, eine Besonderheit in der DDR, in der normalerweise jeder in einem Staatsbetrieb gearbeitet hat. Die Eltern waren beide Lehrer, und auch Gunnar Huste wollte schon in seiner Jugend entweder Seiler oder Lehrer werden. Allerdings musste er dafür einen verlängerten Wehrdienst ableisten, sich für drei Jahre verpflichten. Kurz vor seinem 19. Geburtstag wurde er eingezogen und absolvierte seinen Grundwehrdienst in Brandenburg. Selbst in der Kaserne gab es Westfernsehen, das heimlich geschaut wurde. Neben langen Gewaltmärschen von 50 Kilometern, davon einige auch mit Gasmaske und „biochemisch-atomarem Vollschutz“, erinnert er sich vor allem an die politische Indoktrination. „Die Ausbildung war wahrscheinlich härter als im Westen“, sagt Huste. In seinem dritten Jahr bei der NVA begann sich der Tenor zu ändern, plötzlich, im Jahr 1989, war auch von der Auflösung von Demonstrationen die Rede. „Was haben wir damit zu tun,“ fragte sich der 20jährige, der nun aber in seinem dritten Jahr als Rekrut bereits eine eigene Einheit durch die Grundausbildung begleitete. Ende Oktober 1989 sollte seine Einheit dann mit scharfer Munition einen Einsatz in Berlin bestreiten. Huste weigerte sich: „Diese jungen Leute hatten doch keine Erfahrung, mit denen soll ich auf eine Demo mit scharfen Waffen gehen?“ Was nach dem dann kam, war wie ein Traum: Mauerfall, vorzeitige Entlassung, … „Das war mein schönstes Weihnachten“, sagt der heutige Schulleiter der GST. Überhaupt empfand er das Jahr 1990 als das freieste Jahr seines Lebens: „Es ist etwas im Umbruch“, war das Lebensgefühl des damals 21jährigen. Im Sommer fuhr er dann zum ersten Mal in ein westliches Land in den Urlaub, an die Costa Brava nach Spanien. Und begann im Herbst 1990 ein Studium der Mathematik und Naturwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Nach dem Studium ging er für zwei Jahre als Lehrer nach Thessaloniki. Später wechselte er als Lehrer an eine Berufliche Schule in Baden-Württemberg, war mit seiner Frau drei Jahre in Helsinki als Lehrer, wurde schließlich 2016 Schulleiter der GST.
Was war in der DDR besser? „Das Zusammengehörigkeitsgefühl. Der Individualismus war nicht so stark ausgeprägt“, sagt Huste. „Es wurde viel repariert.“ Und Beziehungen waren sehr wichtig, um etwa eine Garage zu bauen.
„Die DDR war ein schizophrener Staat“, sagt er. Man konnte sich immer auch anders entscheiden, dann hatte man es halt schwerer. Wie seine Mutter, die kein Arbeiterkind war, und erst eine Ausbildung als Spinnerin machen musste, ehe sie dann über den zweiten Bildungsweg Abitur machte. „Ich bin sicher, dass auch die eine oder andere Flucht geglückt ist, weil sich Personen dagegen entschieden haben zu schießen“, sagt er. Man habe immer auch eine Wahl gehabt.
Ob er seine Stasi-Akte schon gelesen habe, will ein Schüler wissen. Er habe sie noch nicht angefordert, sagt Gunnar Huste. „Will ich tatsächlich wissen, dass vielleicht mein bester Freund ein Stasi-Spitzel gewesen ist“. Dieser Gedanke habe ihn bisher davon abgehalten.
„Schätzen Sie die Demokratie“, sagt er zum Abschluss seines 45minütigen Vortrags. Und setzen Sie sich für den Klimaschutz ein, „wir haben nur einen Planeten“. Die Schüler loben anschließend vor allem die Strukturiertheit des Vortrags. „Das war der erste Zeitzeuge, der nach einem Exkurs wieder zum Thema zurückgekehrt ist“, bemerkt Aaron Bleckmann.