Felix Rottberger besucht die GST
Jüdischer Zeitzeuge hat den Holocaust in Dänemark überlebt
02.05.2019
In Island, wo sie 1935 Exil gefunden hatten, war die Familie von einem Konkurrenten des Vaters zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen worden. Auch in diesem Land gab es wachsenden Antisemitismus, Hitlers Rassenlehre war unter den Isländern, die damals noch zu Dänemark gehörten, populär. Sie fühlten sich als „Arier“. „Wie Schwerkriminelle wurden wir vom Hafen ins Konsulat geführt“, erinnert sich Rottberger an diesem Freitag, 28. März, in der Gewerblichen Schule Tübingen vor rund 170 Zuhörern auf Einladung von Florian Kubsch, Lehrer für Geschichte an der Schule.
Hans Rottberger hatte vom isländischen Kindermädchen der Familie kurz vor der Abfahrt des Schiffes noch eine Adresse in Dänemark bekommen, die Juden helfen würde. Doch der deutsche Konsul lehnte es ab, diese dänische Familie anzurufen. „Das Schiff bringt euch zurück nach Deutschland“, sagte der Konsul. Da fiel Hans Rottberger in Ohnmacht, ob tatsächlich oder aus letzter Verzweiflung bleibt an diesem Freitag offen. „Jetzt wussten die Deutschen nicht so recht, wie sie damit umgehen sollten“, sagt Felix Rottberger. Schließlich riefen sie doch die dänische Familie an. Felix Rottberger kennt den Namen der Familie bis heute nicht, „aber sie muss einflussreich gewesen sein.“ Jedenfalls durften die Rottbergers, vier kleine Kinder und die beiden Eltern, die deutsche Botschaft verlassen und in Dänemark bleiben.
Die zweite lebensbedrohliche Situation überstand Felix Rottberger fünf Jahre später: Mittlerweile war auch Dänemark von deutschen Soldaten besetzt, die dänischen Juden ständig auf der Flucht. „Zwischen 1940 und 1942 sind wir 17-mal umgezogen, wir waren zu verdächtig wegen unseres Aussehens“, so Rottberger. „Nacht für Nacht zogen wir von Jugendherberge zu Jugendherberge, tagsüber verbargen wir uns im Wald.“ Im Oktober 1943 brachten dänische Widerstandskämpfer 5000 Juden mit Booten in einer Nacht- und Nebelaktion nach Schweden. Die vier Rottberger-Kinder wollte der Kapitän des Schiffes aber nicht mitnehmen: „Kleine Kinder sind angesichts der gefährlichen Überfahrt zu riskant“, sagte er. Den verzweifelten Eltern teilte er mit: „Sie kommen mit einem anderen Boot nach Schweden.“ Rottberger: „Dieses Boot kam nie.“
Nach ein paar Nächten in einem Strandhäuschen wurden die vier Rottberger-Kinder in ein Kinderheim gebracht. Doch dort gab es eine große Gefahr: deutsche Soldaten, die immer wieder auf der Suche nach Lebensmitteln in das Kinderheim eindrangen. „Wir hatten schwarze Haare und dunkle Augen, alle anderen dänischen Kinder waren blond“, sagt Rottberger. Deshalb hatte man ihnen beigebracht, sich sofort zu verstecken, sobald deutsche Soldaten auftauchten. „Unterm Bett, im Kleiderschrank, auf dem Heuboden, in den Ställen“, so Rottberger.
„Wir hatten uns vorgenommen, uns immer zusammen an einem Platz zu verstecken – ob das eine gute oder schlechte Strategie war?“ fragt Rottberger die Schüler, die den Worten des 82-Jährigen gebannt lauschen. Auf dem Heuboden in einem Nebengebäude geschah schließlich das Unglaubliche: „Ein Soldat zieht meine Schwester aus dem Heu heraus.“ Er schaut sie an und sagt: „So eine süße kleine Tochter habe ich auch in Hamburg.“ Und legt sie zurück. Als die Kameraden den Soldaten fragen, „Ist da was da oben?“, verneint er.
„Nicht alle Deutschen waren schlecht“, sagt Rottberger. Er verbrachte zwar seine Jugend in Dänemark, doch sein Vater sehnte sich nach Deutschland zurück. 1955 ging die Familie zu Fuß von Kopenhagen nach Konstanz. „Das dauerte drei Monate.“ In Konstanz erlebten sie, dass der Antisemitismus auch ohne Juden noch wunderbar funktionierte. „Warum kommt ihr ausgerechnet nach Konstanz“, wurde der Familie vorgeworfen. „Man saß im Wirtshaus, schimpfte über Juden, aber kannte keine“, so Rottberger. Die Familie wurde schließlich in einer Jugendherberge untergebracht, die im Winter nicht beheizt werden konnte. „Doch sie wurden uns nicht los“, sagt Felix Rottberger schmunzelnd.
Schließlich erhielt die Familie eine Drei-Zimmer-Wohnung, ein Zimmer nutzte der Vater sofort, um wieder eine Lederwerkstatt einzurichten, so hatte er die Familie schon in Island über die Runden gebracht. „Mein Stammplatz war unter dem Tisch“, erinnert sich Rottberger. Ab 1960 erhielt die Familie dann endlich auch eine Entschädigung für den verlorenen Besitz in Berlin, das Radiogeschäft war von den Nazis „arisiert“ worden. Langsam begann in Deutschland auch ein Bewusstsein für die Verbrechen der Nazis zu entstehen, vor allem durch die Auschwitz-Prozesse 1961 in Frankfurt.
Viele Juden, die in Israel lebten, hätten ihn aber immer wieder gefragt: „Felix, wie kannst Du überhaupt in Deutschland leben?“ Er wolle Hitler den Triumph nicht gönnen, Deutschland „judenfrei“ zu machen, sage er dann. Felix Rottberger zog 1966 nach Freiburg, 1968 heiratete er seine Frau Heidi, die ihn auch an diesem Freitag in Tübingen begleitet und unterstützt. Er nennt sie Hannah, vielleicht weil sie für ihn zum Judentum konvertierte. Sie brachte fünf Kinder zur Welt, heute hat Rottberger 13 Enkel. Er arbeitete lange als Friedhofsaufseher für die jüdische Gemeinde, heute reist er als Zeitzeuge von Schule zu Schule. „Vielen Dank und Shalom“, sagt er nach 90 Minuten Vortrag und singt zum Abschluss ein dänisches Kinderlied. „Das haben wir immer gesungen, als wir in unserem Versteck lagen“, sagt Rottberger und das Lied, im Stile von „ein Mops kam in die Küche“ scheint kein Ende zu nehmen – fast wie der Antisemitismus. Auch der ist offenbar nicht tot zu kriegen, wie Florian Kubsch in seiner Einführung betont.