„Ich kann denen, die umgekommen sind, eine Stimme geben!“
„So etwas darf nie wieder passieren auf der Welt!“ Gerd Holder spricht mit sich überschlagender Stimme. „Ich kann denen, die umgekommen sind, eine Stimme geben.“
Holder lebt seit zwei Jahren in einer Wohngruppe in Grafeneck. Er führt heute die rund 70 Schülerinnen und Schüler und ihre vier Lehrerinnen und Lehrer über das Gelände der ehemaligen Tötungsanstalt. Die Spuren der Vernichtung der 10.654 Menschen, die im Jahr 1940 hier in einer kleinen Gaskammer ermordet wurden, haben die Nationalsozialisten sorgfältig getilgt. Von dem Geräteschuppen, der ab Januar zur Tötung der Körperbehinderten, geistig Behinderten, Alkoholkranken, Epileptikern und Schizophrenen diente, alles Menschen, die nicht in das Weltbild der Nationalsozialisten passten, zeugt heute nur noch eine kleine Mauer und ein Gedenkstein an das Krematorium. Damals wurden die Insassen der insgesamt 48 Behinderten-Einrichtungen in Württemberg, Baden, Bayern und Hessen mit Bussen nach Grafeneck gefahren. Dort wurden sie nochmals von Ärzten untersucht, einige wenige tatsächlich zurückgestellt und wieder nach Hause geschickt. Der Großteil jedoch wurde durch einen Schlafsaal geführt, in dem nie ein Patient übernachtete. Stattdessen wurden die Behinderten aufgefordert, sich auszuziehen und dann zum Duschen zu gehen. Statt Wasser kam Gas aus der Leitung, eingeleitet aus dem Nebenraum durch einen Arzt. Nach ihrem qualvollen Tod durch Ersticken wurden die Opfer in einem Krematorium verbrannt. Zuvor allerdings wurden den Opfern noch die Goldzähne entfernt. Die Angehörigen erhielten sogenannte „Trostbriefe“, in denen neben einer frei erfundenen Todesursache auch Bedauern geheuchelt wurde. Falls sie eine Urne mit den Überresten ihrer Angehörigen wollten, erhielten sie beliebige Aschereste aus dem Krematorium. Ende 1940 beendeten die Nationalsozialisten die Aktion in Grafeneck, das Personal machte in anderen Einrichtungen mit dem Töten weiter.
Heute leben wieder 70 bis 75 Menschen auf dem Gelände von Grafeneck, sind im Bauernhof und Werkstätten tätig. „Alle hier wissen über die Vergangenheit Bescheid“, sagt Tremmel. Der Student der Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen forscht zu Gedenkbüchern, die hier in Grafeneck im Museum ausliegen. Darin können die Besucher ihre Eindrücke und Empfindungen notieren.
„Was denkt ihr darüber, dass hier wieder Behinderte leben?“ fragt Maximilian Tremmel die TG-Schülerinnen und Schüler zum Abschluss. Die finden es gut, weil sie selbst nur noch selten mit Menschen mit Einschränkungen konfrontiert sind, wie an diesem Tag mit Gerd Holder. Ansonsten finden vor allem die Tiere Anklang, Kühe, Schafe, die an diesem schönen Frühsommertag auf der Alb grasen und ein idyllisches Bild vermitteln.