Im Kofferraum in den Westen
Der 22. Dezember 1975 war der 13. Hochzeitstag von Karlheinz und Elke Breinig. Und es war das Datum, an dem sich ihr Leben komplett verändern sollte: Sie wagten die Flucht in die BRD. Und hatten Glück.
Es ist mucksmäuschenstill im großen Besprechungsraum der GST an diesem Freitag, 7. Oktober 2022. Karlheinz Breinig, mittlerweile 80 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen, berichtet vor rund 120 Schülerinnen und Schülern, sowie zahlreichen Lehrerinnen und Lehrern über seine Erlebnisse und Motive, die damalige DDR zu verlassen.
„Unsere Kinder sollten es mal besser haben“, das war das Hauptmotiv des Ehepaares, weshalb sie an diesem Tag das Fluchtauto, einen Fiat Panda in Halle bestiegen. „Direkt vor unserem Haus war eine Polizeiwache“, erzählt Breinig. „Und der Fahrer des Fluchtautos hat im Halteverbot geparkt“. Später fuhr er dann mit überhöhter Geschwindigkeit durch Halle, „und das mit einer Westnummer!“ Karlheinz Breinig glaubt heute, dass der Fahrer unter Drogen stand. Eigentlich sollte das Ehepaar am Hermsdorfer Kreuz, einem Verkehrsknotenpunkt in der Nähe von Halle in ein größeres Fluchtauto umsteigen, doch die Fahrerin dieses Wagens kam erstens zu spät und war zweitens gar nicht auf so viele Personen vorbereitet. Sie unterbreitete dann den Vorschlag, dass die Familie in den Kofferraum des Autos steigen sollte. „Das machen wir nicht“ sagte Karlheinz Breinig. Er wollte mit seiner Familie lieber wieder nach Halle zurückkehren. Dort hatte er eigentlich ein gutes Einkommen, weil er heimlich Antennen zum Empfang von Westsendern baute und verkaufte. Doch der Fluchthelfer im Fiat Panda fuhr plötzlich einfach los, im Auto befand sich noch Frank, der 12jährige Sohn der Breinigs. Offenbar fürchtete der Fahrer um sein Salär, denn die Eltern von Breinigs Frau Elke, die mittlerweile im Westen lebten, hatten eine Anzahlung in Höhe von 4.000 Mark getätigt, insgesamt sollte die Flucht 60.000 DM kosten.
„Was sollten wir jetzt machen?“, fragt Breinig. Sie stiegen alle drei doch in den Kofferraum eines Opels, obwohl sie fast wöchentlich in den Nachrichten der DDR von gescheiterten Fluchten gehört hatten. Ursprünglich war vereinbart gewesen, dass die Familie falsche Dokumente bekommen sollte, und so mit gefälschten Pässen über die Grenze gebracht würde. Doch die Familie wollte nicht getrennt werden, also ging sie das Risiko ein.
An der Grenze nach Westberlin hörte Breinig dann die Schritte der DDR-Grenzsoldaten, die um das Auto herumgingen. Doch der Kofferraum blieb zu. Die Flucht war geglückt. „Dann musste ich erst mal ein Bier trinken“, sagt Breinig.
Im Westen zog die Familie dann nach Hemmingen bei Stuttgart, wo Breinig, gelernter Dreher und Elektriker, ab Mai 1976 als Hausmeister in einem Wohnkomplex arbeitete, bis zu seiner Frühverrentung 1998. „Ich würde es wieder so machen“, sagt Breinig. „Wir sind viel gereist, konnten sagen, was wir wollten“, das sieht er als die Hauptvorteile der Demokratie.