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Spurensuche in Baisingen


Ein wolkenverhangener Tag im Gäu. Jeden Augenblick droht es zu regnen, doch es bleibt trocken. Die gelben Getreidehalme wiegen sich im Wind. Der Weg zum jüdischen Friedhof am Waldrand steigt leicht an. „Hier sind wir früher Schlitten gefahren“, erinnert sich Fredy Kahn. Der 75jährige ist hier aufgewachsen, Fußballspielen auf dem nahegelegenen Sportplatz war ein wesentlicher Teil seiner Jugend. „Hier haben wir immer getrunken, da war früher eine Quelle“, erinnert er sich. Heute erhebt sich hier ein Wasserspeicher. „Jüdische Friedhöfe wurden immer in der Nähe von Quellen angelegt, damit die Leute sich nachher die Hände waschen konnten“, sagt Kahn. Hygiene war den Juden immer wichtig, weshalb sie später häufig die Pest eher überlebten, was ihnen wiederum von christlicher Seite den Vorwurf einbrachte, an der Seuche Schuld zu sein. 1778 wurde der jüdische Friedhof am Waldrand von Baisingen angelegt, die Familie Kahn lebte schon seit 1690 in Baisingen. Sie wurde gegen die Bezahlung von Schutzgeld von den damaligen Schenken von Stauffenberg, ehemaligen Reichsrittern, hier angesiedelt. Im übrigen Württemberg war den Juden das Wohnrecht seit dem 16. Jahrhundert verboten. Die Gemeinde wuchs, um 1848 lebten 260 jüdische Bewohner in Baisingen, ein Drittel der Bevölkerung. Seit 1784 gab es bereits eine Synagoge, die dann 1837 umgebaut wurde. Am 9. November 1938, in der Reichspogromnacht, blieb sie zunächst verschont. Doch am nächsten Nachmittag kamen SA-Leute aus Horb und Herrenberg, rissen die Kirchenbänke und Tora-Rollen heraus und verbrannten alles auf der Straße. Das Gebäude selbst stand zu nahe an anderen Häusern und blieb deshalb unversehrt.

Fredy Kahn auf dem Baisinger Friedhof

Nach der der Deportation der letzten jüdischen Bewohner 1942 wurde die Synagoge an einen Landwirt verkauft, der sie zu einer Scheuer umnutzte. 1984 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt und 1988 schließlich von der Stadt Rottenburg gekauft. Ein Förderverein, der 1989 gegründet wurde, beschloss schließlich die behutsame Renovierung zu einer Gedenkstätte, die 1998 eingeweiht wurde. Seitdem ist die Synagoge sonntags geöffnet. Besonders schön ist die gewölbte Decke, blaubemalt und mit Sternen übersät. Eine kleine Ausstellung im ersten Stock dokumentiert das jüdische Leben im Dorf. So wurde etwa nach dem zweiten Weltkrieg auch noch eine Sukka, eine jüdische Laubhütte gefunden, die als Hühnerstall überlebt hatte. „Überlebt hat nur, was anderweitig genutzt werden konnte“, sagt Hubert Dettling, Vorsitzender des Synagogenvereins in seinem engagierten Vortrag zu den rund 15 Schülern und einer Schülerin. Besonders beeindruckt die Jugendlichen der Friedhof: Dass die Gräber ewig sind, alle strikt nach Osten ausgerichtet sind, in Richtung Jerusalem. Dass auf manchen Gräbern Steine liegen, von Besuchern zur Erinnerung an die Toten abgelegt. Das Grab von Fredys Eltern ist leicht verwildert, sorgfältig entfernt der 75jährige das Unkraut. Hier will er selbst einmal begraben werden, „als vermutlich letzter Jude des Ortes“.

 
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