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"Er wog noch 37 Kilo“


Bereits zum dritten Mal hat der Arbeitskreis Demokratische Schule zum Holocaustgedenktag am 27. Januar einen Zeitzeugen in die Gewerbliche Schule Tübingen eingeladen. In diesem Jahr begrüßt mit Fredy Kahn am Freitag, 11. Februar, erstmals ein Nachgeborener die Schülerinnen und Schüler der Klassen 11/1, 12/2 und 12/4 des Technischen Gymnasiums der Gewerblichen Schule Tübingen. Kahns Vater Harry hatte als einziger von 26 Juden, die aus Baisingen in die Vernichtungslager des Nazi-Regimes deportiert wurden, den Holocaust überlebt. Fredy selbst wurde 1947 geboren.

"Er wog noch 37 Kilo“

Kahns Vorfahren kamen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Baisingen, nachdem sie nach einem Judenpogrom in Wien vertrieben worden waren. Gegen die Bezahlung von Schutzgeld an den dortigen Fürsten, einen Vorfahren des Hitler-Attentäters Stauffenberg, durften Juden in dieser Gemeinde leben. Sie waren Viehhändler, genauso wie sein Vater. Er und seine Familie hofften nach Hitlers Machtantritt, alles werde schon nicht so schlimm kommen. Doch nach der Reichspogromnacht 1938 schickte die Familie Kahn Harrys Bruder Siegfried 17jährig nach England. „Sie haben alles Geld zusammengekratzt“, sagt Fredy Kahn. „Danach hatten sie nichts mehr, um selbst auszuwandern.“  So wurden Fredys Vater Harry Kahn, dessen erste Frau, seine Mutter sowie sein Großvater 1941 nach Riga deportiert. „Alle im Dorf haben das mitbekommen“, sagt Fredy Kahn. Wer später behauptete, er habe das nicht gesehen, der habe wohl bewusst weggeschaut. Nach viereinhalb Jahren in neun KZ´s kam Harry Kahn zurück. Als einziger. Er wog noch 37 Kilo.

„Warum hast Du Dich wieder hier niedergelassen?“? Diese Frage wollte Fredy seinem Vater immer stellen, aber er hat es versäumt. Er vermutet als Grund seine Heimatverbundenheit. Hier stand schließlich sein Elternhaus, welches mittlerweile von anderen Personen bewohnt war. Hier kannte man ihn, hier konnte er als Viehhändler arbeiten. Harry Kahn versuchte, die verlorenen Jahre des KZ-Aufenthalts aufzuholen. Er stürzte sich in die Arbeit, damit er alles andere verdrängen konnte. Er heiratete erneut, eine KZ-Überlebende, Jeanette Karschinierow aus Stuttgart. Fredy, das einzige Kind des Paares, kam dann 1947 zur Welt.

„Als Kind von KZ-Überlebenden wurde ich verwöhnt“, sagt Fredy Kahn. „Mir wurde alles zu Füßen gelegt. Ich hatte ein Schäfle, ein Geissle, ein Pony und einen Hund.“

Einmal jedoch verbot ihm der Messner des Ortes, die Glocken der Kirche zu läuten. „Wir Dorfbuben hatten nach Schulschluss immer großen Spaß daran gemeinsam an den Glockenseilen zu ziehen“, sagt Kahn. „Du hosch hier nix verlora. Ihr Juden habt den Heiland umgebracht“, sagte der Messner zum achtjährigen Fredy. Der hatte das Wort Heiland gar nicht gekannt, hatte aber ein schlechtes Gewissen und erzählte deshalb den Vorfall gar nicht zu Hause. „Zum Glück für den Messner“, sagt Kahn augenzwinkernd. Sein Vater kannte nach dem erlebten Martyrium kein Pardon mehr.

Der Holocaust war zuhause kein Thema. „Täter und Opfer haben über schlimme Dinge nicht mehr gesprochen“, sagt Kahn. Erst durch Besucher aus dem Ausland, die nach Baisingen kamen, um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen, habe er nach und nach von den Verbrechen der Nazis erfahren. Sein Vater schwieg bis zu seinem Tod. Der jüdische Friedhof in Baisingen ist der letzte Kontakt Fredy Kahns zu seinen Wurzeln. Dort will der heute 74jährige Fredy Kahn nach seinem Tod begraben werden, als letzter Jude des Ortes, neben dem Grab seiner Eltern. Seinen Besitz in Baisingen hat er bereits nach dem Tod seiner Mutter verkauft, auch aus Protest gegen den noch immer grassierenden Antisemitismus. Hinter vorgehaltener Hand hatte es doch immer geheißen: „Des isch zwar an Jud, aber n` ganz anständiger“. „Seid mutig, wenn ihr Unrecht gegen Andersdenkende oder Minderheiten bemerkt“, appelliert er zum Abschluss seines gut 45minütigen Vortrags an die rund 50 Schülerinnen und Schüler.

 
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