„Jetzt geht es los!"
„Die Universität Tübingen plant seit Jahren nichts anderes, als die Gewerbliche Schule zu übernehmen“. Michael Butter, Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen, kontert in seinem Vortrag am Dienstag, 5. Oktober, die humorvolle Anspielung Gunnar Hustes mit Ironie. Der Schulleiter der GST hatte in seinem Grußwort die ungewöhnliche Häufung von universitären Anfragen an seine Schule mit einem Komplott erklärt, das das Ziel habe, die Schule zu „übernehmen“. Im folgenden 45-minütigen Vortrag geht Butter immer wieder auf dieses Bonmot und andere aktuelle Ereignisse ein und erklärt damit elegant und verständlich die wichtigsten Bausteine einer Verschwörungstheorie: „Nichts geschieht durch Zufall. Nichts ist, wie es scheint. Alles ist miteinander verbunden.“
So seien etwa viele Verschwörungstheoretiker derzeit davon überzeugt, dass die 5-G-Technologie für die Corona-Krise verantwortlich sei. Den Ausfall von Facebook am Vortag (4. Oktober) hätten viele Verschwörungstheoretiker so gedeutet: „Jetzt geht es los!“
Besonders für Menschen, die schlecht mit Unsicherheiten umgehen könnten oder die einen Macht- und Kontrollverlust erlitten hätten, seien solche Theorien interessant. „Die Welt ist oft chaotisch“, sagt Butter. Verschwörungstheorien gäben Sicherheit, sie gäben den Menschen Kontrolle zurück, denn man könne mit dem Finger auf andere zeigen. „Menschen sind an allem schuld – die kann man besiegen“, so der 44-Jährige, der seit Jahren zu Verschwörungstheorien forscht und dessen Forschungsthema nun durch die Corona-Krise plötzlich ins Rampenlicht gerückt ist. Ein kompliziertes Phänomen wie die Globalisierung sei dagegen viel schwieriger zu besiegen und zu verstehen.
Butter schafft es mit klarer, verständlicher Sprache, die rund 150 Schülerinnen und Schüler völlig in seinen Bann zu ziehen. In 16 Klassenzimmern sind weitere Schüler per Live-Übertragung zugeschaltet. Insgesamt sind es so mehr als 400 Schüler und Lehrkräfte dabei.
Als Gründe für die Verbreitung von Verschwörungstheorien nennt Butter Profitgier aber auch politische Instrumentalisierung: So habe etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban eigens eine Theorie vom „großen Austausch“ der europäischen Bevölkerung durch Muslime erfunden, hinter dem angeblich der US-Milliardär George Soros stecke.
Der sei das perfekte Feindbild für viele Ungarn: Reich und jüdischen Glaubens, damit bediene er den in Ungarn noch immer weit verbreiteten Antisemitismus.
„95% der Fidesc-Anhänger, Orbans Partei, glauben daran, dass Soros an allem schuld ist“, so Butter.
Männer neigten insgesamt mehr zu Verschwörungstheorien als Frauen, außer wenn es sich um medizinische Themen handele, auch nehme die Neigung zu Verschwörungstheorien mit dem Bildungsgrad ab. „Je besser man ausgebildet ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man gut versichert ist und eine gute Rente hat,“ sagt Butter. Auch nehme die Tendenz, an Verschwörungstheorien zu glauben, mit dem Alter zu. Das sei wohl „die Sehnsucht nach früher, nach der guten alten Zeit“.
Insgesamt deckten sich diese Befunde mit den Trägerschichten der populistischen Bewegungen in Europa, die in den vergangenen Jahren an Gewicht gewonnen hätten.
Im deutschen Bundestag etwa gäbe es derzeit nur eine Partei, die Verschwörungstheorien verbreite, die AfD.
Ein schwarzer Bildschirm im Raum 107 der GST bringt Butters Vortrag vorübergehend zum Stillstand. „Dramatisches Zwischenspiel“ kommentiert der Amerikanist diese ungeplante Unterbrechung. „Grad wo es um Corona geht“, ergänzt scherzhaft Florian Kubsch, Lehrer an der GST, der den Vortrag Butters organisiert und eingeleitet hat.
Insgesamt habe Corona die Verschwörungstheorien mehr in den Mittelpunkt gerückt, wohl weil das Virus die ganze Welt in Unsicherheit gestürzt habe. Gleichzeitig zeigten aktuelle Studien aber keine Zunahme von Anhängern von Verschwörungstheorien. Eher sei das Gegenteil der Fall, auch wenn es in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen werde. „Zu Corona muss man sich positionieren“, erklärt Butter. Normalerweise spreche man in Familien nicht über das Impfen, doch in Corona-Zeiten müsse man überlegen: „Können wir uns überhaupt treffen?“ Dadurch würden Einstellungen publik.
Butter hält die Verschwörungstheorien zu Corona dennoch nicht für ungefährlich:
Zum einen beschleunigten sie die Radikalisierung. Menschen könnten sich aufgerufen fühlten, Gewalttaten zu begehen. Butter nennt die Attentäter von Christchurch und Halle ebenso wie den Rechtsradikalen Anders Breivik, der vor zehn Jahren 69 Jugendliche auf einer Insel bei Oslo ermordet hat. Auch der Mord von Idar-Oberstein, als ein Tankstellenmitarbeiter im September 2021 von einem Maskenverweigerer erschossen wurde, sei letztlich die Folge dieser Theorien. „Immer Männer“, so Butter. Die aggressive Stimmung auf Demonstrationen sei bereits zuvor mit Anschlägen auf das Paul-Ehrlich-Institut in Frankfurt oder auf Kunstwerke in Berliner Museen manifest geworden.
Außerdem leugneten die Demonstranten etabliertes medizinisches Wissen, das führe zu neuen Ansteckungsherden. So hätten sich etwa die Demonstrationen der Querdenker im vergangenen Jahr zu neuen Ausbreitungsherden der Corona-Infektion entwickelt, das zeigten wissenschaftliche Untersuchungen.
Auch seien die Corona-Leugner eine Gefahr für die Demokratie. Querdenker glaubten, sie lebten in einer Diktatur, ihr Widerstand sei gerechtfertigt. Gerade in den USA hätten die Trump-Anhänger im Januar gezeigt, wie diese Verblendung zu einem „Sturm aufs Capitol“, zu einem gewaltsamen Angriff auf eine der Säulen der Demokratie führen könne.
Letztlich gäbe es kaum noch Möglichkeiten, mit Anhängern von Verschwörungstheorien vernünftig zu argumentieren. Man könne nur versuchen, einen „Prozess der Selbstreflexion“ auszulösen. Letztlich sei Aufklärung besser als Nachbereitung, so der Tübinger Amerikanist, auch zum Motiv für seinen Vortrag an der Gewerblichen Schule, für die er zum Abschluss eine Flasche Rotwein und großen Applaus bekam.