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„Genäht, genäht, genäht!“


„Hammer – Zirkel – Stacheldraht“, so ist die Ausstellung überschrieben, die vom 1. Oktober bis 16. November im Foyer der Gewerblichen Schule Tübingen zu sehen ist. Darin geht es um die erniedrigenden Haftbedingungen in DDR-Gefängnissen. Konstanze Helber aus Rottenburg, selbst von 1977 bis 1979 zwei Jahre im DDR-Gefängnis Hoheneck inhaftiert, hat am Freitag, 1. Oktober, die Ausstellung eröffnet.

Eröffnung Ausstellung

1975 hat sie ihren heutigen Mann kennengelernt, in Bulgarien, im Urlaub. Die beiden verliebten sich, wollten gerne zusammenleben. Das Problem: Er kam aus Rottenburg, Konstanze Koch lebte in Jena. Jena war damals Teil der DDR. Sie stellte zwei Ausreiseanträge, beide wurden abgelehnt. Das Paar traf sich immer wieder in Berlin, wo ihr damaliger Freund ein Tagesvisum bekam, abends musste er wieder zurück in den Westen. Schließlich beschloss er ein professionelles Fluchthilfeunternehmen zu engagieren. Er bezahlte mehrere Tausend D-Mark. Nachts musste Konstanze Helber auf der sogenannten Transitstrecke, einer Autobahn, die von Berlin in den Westen führte, in einen Kofferraum steigen. Doch an der Grenze wurde das Auto gestoppt, der Fahrer und Konstanze Koch verhaftet. Offenbar hatte sie ein Stasi-Spitzel verraten. Bereits als Schülerin war sie mehrmals negativ aufgefallen, weil sie im Unterricht unbequeme Fragen stellte. So durfte Konstanze Koch auch nicht das Abitur machen, obwohl sie gerne Medizin studiert hätte. Immerhin konnte sie eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester in Jena absolvieren.

Gunnar Huste, Rektor der Gewerblichen Schule Tübingen, bestätigt in seiner Begrüßungsrede diese Angaben. Er ist selbst in der DDR aufgewachsen, hat nach eigenen Worten eine „schöne Kindheit“ dort verbracht, musste aber nach seinem sehr guten Abitur, „Durchschnitt 1,1“, erfahren, dass es mit dem Studium nicht so einfach werde. „Ihre Eltern sind keine Arbeiter“, hieß es. Deshalb musste er drei statt der üblichen eineinhalb Jahre Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) leisten, bevor er ein Lehramtsstudium aufnehmen durfte. „Über diese Zeit erzähle ich gerne einmal, wenn mich eine Klasse als Zeitzeuge einlädt“, so Huste in seiner kurzen Einführung.

Konstanze Helber wurde nach ihrer Festnahme und einer fünfmonatigen Untersuchungshaft zu drei Jahren und drei Monaten Haft wegen Illegaler Flucht und staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme verurteilt. Sie kam ins Gefängnis Hoheneck in der Nähe von Chemnitz, einem berüchtigten DDR-Frauenknast. Im „Verwahrraum 66“ wurde sie gemeinsam mit 48 Frauen in eine Zelle gesperrt. Es gab zwei Toiletten und zwei Waschtröge, keine Heizung, kein warmes Wasser, vergitterte Fenster, „viel zu viel Frauen auf engstem Raum. „22 Monate habe ich praktisch nie richtig geschlafen“, sagt Helber heute. Sie hatte Angst vor den Mithäftlingen, unter ihnen Schwerkriminelle, aber auch Kriegsverbrecherinnen. Nachts hörte man Wimmern, Weinen aber auch die Geräusche der Liebespaare, die es in den Zellen gab. „Es gab auch sexuelle Übergriffe“, sagt Helber. „Um vier Uhr musste man dann aufstehen, Waschen, Zähneputzen, „Intimpflege immer vor Zuschauerinnen“, Frühstück. Danach ging es zur Arbeit. Acht Stunden an einer „schlechten Nähmaschine“, immer mit der Angst, die Norm nicht zu schaffen. Bei der Bettwäsche war z. B. die Vorgabe, 144 Bezüge in acht Stunden zu nähen. „Es gab keinen Arbeitsschutz, Lärm, schlechte Luft“, berichtet Helber. „Ich habe genäht, genäht, genäht!“

So vergingen die Tage schneller. Arbeit durfte man nicht verweigern, darauf stand Arrest in den Kellerzellen. Eingesperrt in einer Einzelzelle in völliger Dunkelheit, mit willkürlichen Essenszeiten. Dort gab es auch eine Wasserzelle: Frauen wurden bis zum Hals in kaltes Wasser gestellt. Für einen Bettbezug erhielt Konstanze Helber einen DDR-Pfennig als Entlohnung. Später hat sie erfahren, dass die sozialistischen Großbetriebe, für die die Häftlinge nähten, die Bettwäsche ins westliche Ausland verkaufte. „So bunte Bettwäsche gab es in der DDR nie“, sagt Helber. Der Strafvollzug musste sich in der DDR selbst finanzieren, auch ein Detail, das in der künftigen Gedenkstätte Hoheneck dokumentiert werden soll, die laut Helber 2022 eröffnet wird.

„Ich war oft sehr traurig, hatte Sehnsucht nach meinem Freund“ sagt Helber. Immerhin gab es alle drei Monate Besuche ihrer Mutter. Dann, nach zwei Jahren Haft, wurde Helber verlegt, in ein sogenanntes Freikaufgefängnis. „Ich wurde vogelfrei“, sagt sie. Wolfgang Vogel war ein Anwalt, der für die DDR mit der Bundesrepublik Deutschland über den Freikauf von Häftlingen verhandelte. Rund 90.000 D-Mark bezahlte die BRD für Helbers Freilassung. Am 12. April 1979 fuhr sie in einem Bus mit DDR-Kennzeichen bis zur Grenze, dann wechselte der Bus sein Kennzeichen in ein westdeutsches Nummernschild. „Das machte Klack“, erinnert sie sich. So kam sie ins Aufnahmelager Gießen, von dort fuhr sie nach Rottenburg. Im September 1979 heiratete sie ihren langjährigen Freund, fand Arbeit in der chirurgischen Klinik in Tübingen, wo sie 20 Jahre als Kinderkrankenschwester tätig war. Dann hat sie noch einmal die Arbeit gewechselt und als Assistentin bei Menschen mit schwerst- und mehrfach-Behinderungen gearbeitet.

Heute hat sie als Zeitzeugin alles Hände voll zu tun, sie organisiert Ausstellungen und hat einen süddeutschen Freundeskreis Hoheneck ins Leben gerufen. „Viele Frauen hatten noch nie über ihr Schicksal geredet“, sagt sie.

„Haben Sie auch eine Stasiakte?“, will ein Schüler wissen. „Ja, die hat mehr als tausend Seiten“, sagt sie. Am schlimmsten war bei der Lektüre die Feststellung, dass ihre engste Freundin für die Stasi gearbeitet hat. „Das hat die Freundschaft nicht überlebt“, sagt sie. Besonders schmerzt Konstanze Helber heute die Tatsache, dass die ehemaligen Stasi-Offiziere und auch Gefängnis-Aufseherinnen, von den Insassen „Wachteln“ genannt, heute Pensionen vom deutschen Staat beziehen. „Das belastet viele von uns“, sagt sie mit Blick auf die Haftopfer, von denen bis heute viele unter psychischen Spätfolgen leiden. Manche verzichteten deshalb auch auf die Haftentschädigung, die der deutsche Staat allen politisch-rehabilitierten DDR-Gefängnisinsassen bezahlt, 300 Euro pro Haftmonat.

 
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