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„Das ganze Dorf hat ein schlechtes Gewissen gehabt“



Fredy Kahn
 
„Einen Juden stellt ihr Euch wohl anders vor“, begrüßt Fredy Kahn am Freitag, 25. September, die Schüler der Klasse 13/4 des Technischen Gymnasiums der Gewerblichen Schule Tübingen. „Mit Schläfenlocken“. Dann lässt er die Schüler raten, wie lange Juden schon in Deutschland leben. „Seit dem 11. Jahrhundert“, tippt Noah Layla. „Nein,seit dem Jahr 321 n.Ch., 1700 Jahre!“, sagt Kahn. 
Seine Vorfahren lebten seit der 2. Hälfte des 17.Jahrhunderts  in Baisingen, nachdem sie nach einem Judenprogrom in Wien vertrieben wurden. Also seit zehn Generationen. Die Vorfahren waren Viehhändler. „Warum waren das alle Händler?“, fragt Kahn. „Sie durften nicht in die Handwerkerzünfte“, weiß Tobias Ayen.
„In Baisingen hatte Graf von Stauffenberg, ein Vorfahr des späteren Hitler-Attentäters, die Idee, Juden anzusiedeln“, berichtet Kahn. Sie bekamen einen sogenannten Schutzbrief und durften dann in vorgegebenen Häusern wohnen, mussten aber dafür „15 Flacon und eine Gans pro Jahr“ Steuern bezahlen. Moses Ha Kohen, der erste urkundlich erwähnte Urahn, starb 1705  in Baisingen. Es gab vom König von Württemberg Mitte des 19.Jahrhundert Bestrebungen zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden und prompt gab es heftige Proteste und 1848 ein Judenpogrom auch hier im kleinen Dorf am Rande des Schwarzwaldes. Erst 1866 bekamen die Juden in Württemberg die Gleichberechtigung. Nunmehr durften sie sich endlich überall niederlassen und wanderten teilweise in die Städte ab. 
Viele Juden in Baisingen glaubten 1933 nach Hitlers Machtantritt, alles werde schon nicht so schlimm kommen. Doch nach der Reichspogromnacht 1938 schickte die Familie Kahn Harrys Bruder Siegfried (17 jährig) nach England. Er sah seine Eltern nie wieder. Fredys Vater Harry Kahn, dessen erste Frau, seine Mutter sowie sein Großvater wurde 1941 nach Riga deportiert. Der Großvater Jakob Lazard  starb ein halbes Jahr später mit 93 Jahren im KZ Theresienstadt , die übrigen deportierten Familienmitglieder wurden ermordet. 
Nach 4 ½ Jahren KZ ,  kam Harry Kahn, Fredys Vater zurück. Er überlebte das Martyrium von neun KZ’s  . Als er im Juli 1945 nach Baisingen zurückkehrte, wog er noch 37 Kilo.
„Warum hast Du Dich wieder nach der Befreiung im Heimatdorf niedergelassen“? Diese Frage wollte Fredy seinem Vater immer stellen, aber er hat es versäumt. Er vermute als Grund wohl seine Heimatverbundenheit. Hier stand schließlich sein Elternhaus, welches mittlerweile von anderen Personen bewohnt war. Hier kannte man ihn, hier konnte er als Viehhändler zunächst wieder arbeiten.  Der Plan, in die USA auszuwandern scheiterte. Harry Kahn versuchte, die verlorenen Jahre des KZ-Aufenthalts aufzuholen. Er stürzte sich in die Arbeit, damit er alles andere verdrängen konnte, so beschreibt Fredy die Mentalität seines Vaters. „In den 31 Jahren seines Berufsleben bis zu seinem Tod 1978 hat er nicht einmal Urlaub gemacht“. Nachdem seine erste Frau im Holocaust ermordet worden war, heiratete Harry Kahn 1946 eine KZ-Überlebende, Jeanette Karschinierow aus Stuttgart. Fredy, das einzige Kind des Paares, kommt dann 1947 zur Welt.
Das ganze Dorf hatte nach der unerwarteten Rückkehr ein schlechtes Gewissen“, sagt Fredy Kahn. 
1880 noch waren 1/3 der Bevölkerung jüdischen Glaubens. Als einzige jüdische Familie nach dem Holocaust lebte  nur noch die Familie Kahn in Baisingen.
Als Kind der KZ-Überlebenden Eltern wuchs ich wohlbehütet und verwöhnt auf . 
Einmal jedoch verbot ihm der Messner des Ortes , die Glocken der Kirche zu läuten. Wir Dorfbuben hatten nach Schulschluss immer großen Spaß daran gemeinsam an den Glockenseilen zu ziehen. „Ihr Juden habt den Heiland umgebracht“, sagte er zum 8-jährigen Fredy. Der hatte das Wort Heiland gar nicht gekannt, hatte aber ein schlechtes Gewissen und erzählte deshalb den Vorfall gar nicht zu Hause. Nachträglich gesehen, wohl zum Glück und als bessere Alternative was die Gesundheit des Messners anbetraf!  Bei einem anderen unangenehmen Vorfall nach einem  Viehmarkt, bei dem Fredy dabei war, hörte Harry Kahn, wie im Nebenzimmer der Marktwirtschaft ein konkurrierender Viehhändler zu einem anderen sagte: „Schad, dass‘ se den net au no vergast hen, dann hätte mer jetzt a besseres Gschäft  gmacht“. Harry Kahn stürzte in den Nebenraum und schlug zu.
Die jüngsten antisemitischen Vorfälle, besonders das versuchte Attentat auf die Synagoge in Halle, haben auch bei Fredy Kahn Spuren hinterlassen.
Ihr sollt nachdenken, euren klaren Menschenverstand einsetzen und nie mit zweierlei Maß messen. Seid skeptisch und hinterfragt die kursierenden Verschwörungstheorien auf  ihren plausiblen Wahrheitsgehalt, ermahnte er die jungen Zuhörer. Seid mutig, wenn ihr Unrecht  gegen Andersdenkende oder Minderheiten bemerkt. 
Für mich als Lehrer war es angenehm zu beobachten, wie gebannt und  mucksmäuschenstill meine Schüler 45 Minuten lang Herrn Kahn zugehört hatten.
 
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