"Deutsche Männer haben sich das ausgedacht“
24.01.2020
„So viele Zuhörer hatte ich noch nie“. Ruth Michel blickt konzentriert und erfreut ins große Lehrerzimmer der Gewerblichen Schule, wo ihr rund 200 Schülerinnen und Schüler und zahlreiche Lehrer erwartungsvoll entgegenblicken.
Der Vortrag von Ruth Michel ist Teil des Schwerpunktthemas an der Gewerblichen Schule, die sich für das Jahr 2020 vorgenommen hat, das Siegel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ anzustreben.
„Ich will den Ermordeten des Holocaust und des Dorfes Mikuliczyn eine Stimme geben“, sagt die 92Jährige mit klarer Stimme. Sie lebt heute in Leinfelden-Echterdingen. 1935 ist sie mit ihren Eltern in die kleine Stadt Mikuliczyn gezogen, die damals noch zu Polen gehörte. Ein Sanatoriums-Ort, in dem Ukrainer, Polen und Juden friedlich zusammenlebten. „Das war ein hartes Jahr“, sagt die 92jährigeim Rückblick. Ständig sei sie von Mitschülern ausgelacht worden, weil sie kein Polnisch sprach. Ihr Vater war Jude, er hatte die Situation in Königsberg nicht mehr ertragen, nachdem Juden 1935 mit den sog. Nürnberger Rassegesetzen von den Nationalsozialisten zu rechtlosen Bürgern erklärt worden waren. Also war die Familie in die Heimat seiner Mutter gezogen, einer frommen, orthodoxen Jüdin. Aber Ruth Rosenstock, wie sie damals noch hieß, hatte frühzeitig eine Strategie: „Ich wollte Klassenbeste werden, denn dann lachte niemand mehr“, sagt sie heute.
Im September 1939, nach dem Hitler-Stalin-Pakt und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Ostteil Polens, also auch Mikuliczyn, von den Russen besetzt. Die respektierten die Rechte der Juden. Dann im Juni 1941 überfiel Deutschland Russland, der Krieg kam nach Mikuliczyn, ein tieffliegendes Flugzeug beschoss die Bevölkerung. Wenig später bezogen sechs Gestapo-Leute ein polnisches Gut und rekrutierten ukrainische Helfer. Diese begannen, die Juden in Mikuliczyn zu terrorisieren. „Nachts wurden die Fenster eingeworfen“, berichtet Ruth Michel. Dann kam der 9. Dezember 1941: „Die holen gerade alle Juden im Sägewerk ab“, hörte Ruth Michel von Passanten. Die 13-Jährige wusste, dass jetzt ihr Vater in größter Gefahr war, der seit kurzem dort arbeitete. Sie rannte, bepackt mit Broten, zum Sägewerk. Dort standen ein Gestapo-Mann und ukrainische Hilfspolizisten: „Was will denn die hier?“ fragte der Wachmann. Dem Vater das Essen bringen, übersetzte der Ukrainer dem Deutschen. „Die kann später wiederkommen, wenn wir mit den Juden fertig sind“, sagte der Gestapo-Mann. In derselben Nacht wurden alle Juden des Dorfes verhaftet, die ukrainischen Bewohner hatte den Deutschen die Häuser gezeigt. Ruth Rosenstock, ihre Schwester und ihre Mutter hatten sich im Wald versteckt.
Drei Tage wurden die Menschen in winzige Zellen des Gemeindegefängnisses gesperrt. Babys und Kleinkinder starben auf den Armen ihrer Eltern. „Deutsche Männer haben sich dieses unmenschliche Szenario ausgedacht“, sagt Ruth Michel. „Dann waren die Gruben ausgehoben.“ Für den Transport im LKW müssen sich die Menschen übereinander auf die Pritschen legen, dann werden sie mit einer Plane zugedeckt. Vor der Grube müssen sie sich nackt ausziehen, ihre Personalien angeben und am Rand der Grube niederknien. Dann werden sie mit einem Genickschuss erschossen, insgesamt 205 Menschen. „Stellen Sie sich vor, was diese Menschen dachten, als sie barfuß im Schnee standen und sahen, jetzt wird meine Mutter erschossen und gleich bin auch ich dran.“
Im größten Raum der Gewerblichen Schule herrscht betroffenes Schweigen.
Ruth Michel springt jetzt in die Nachkriegszeit. „Ich habe nichts erzählt. Nur auf Fragen geantwortet“, berichtet sie. Auch habe ihre Familie keine Wiedergutmachung verlangt. „Ich will nicht mit den Ermordeten hausieren gehen“, war ihre Devise. Erst 2010 ist sie dann in die Ukraine zurückgekehrt, hat das Massengrab gesucht und auch gefunden. Das Dorf war nicht wiederzuerkennen, die jüdischen Spuren beseitigt. Immerhin gab es auf dem Friedhof einen Findling mit einer Steinplatte, den ein anderer jüdischer Überlebender, der rechtzeitig über Rumänien geflohen war, errichten ließ.
Wie sind Sie denn nach Königsberg zurückgekommen, will ein Schüler wissen. „Haben wir noch etwas Zeit“, fragt Ruth Michel. Sie erzählt dann eine weitere halbe Stunde von der abenteuerlichen Rückkehr nach Deutschland. Es gab zunächst keine Möglichkeit, ohne Pass ins sogenannte „reichsdeutsche Gebiet“ zurückzukehren. Also blieb Ruth Rosenstock mit ihrer christlichen Mutter und ihrer jüngeren Schwester in Mikuliczyn. Im Sanatorium gelang es der Mutter, einen Küchenjob zu bekommen, Ruth hackte Holz. „Wenn die Klötze zu groß waren, hab ´ich mir überlegt, das wäre Hitler. Dann zersprang jeder Klotz.“ Aus der Küche konnte die Mutter Kartoffelschalen mitnehmen, die sie dann auf der heißen Herdplatte brieten. Trotzdem wurden die Mädchen krank, die Schwester bekam Tuberkulose, Ruth eine Furunkulose, eitrige Geschwüre am ganzen Leib.
Deshalb beschloss die Mutter einen Brief ans Polizeipräsidium nach Lemberg zu schicken, in dem sie die Wahrheit berichtete: Ihr Mann sei Jude gewesen, jetzt aber erschossen worden, sie wolle gerne in die Heimat zurückkehren. Der Brief wurde von der Gestapo abfangen und die Mutter von der Gestapo verhört. Aus dem Stall des Sanatoriums sah Ruth Rosenstock zur selben Zeit einen Gestapomann mit einem Zivilisten zum Sanatorium kommen, wo sie in einem Zimmer wohnten. Sie rannte in den Wald und versteckte sich auf dem Friedhof. Später erfuhr sie von der Mutter, dass diese auf der Gestapo beleidigt worden war und der Gestapo-Mann die Kinder abholen und einsperren wollte.
Mit dem ersten Zug fuhren die drei Frauen am nächsten Morgen weg. Jetzt hatten sie Glück: Im leeren Abteil saß ein Pole, der ebenfalls bereits auf der Flucht vor den Nazis gewesen war. Er bot ihnen an, in ihrem Haus zu bleiben. Wieder arbeiteten die Frauen in einem Sägewerk, bis sich mit einem Ostarbeiter-Transport nach Deutschland die Möglichkeit ergab, „ins Reich“ zurückzukehren.
Die letzten Kriegsmonate erlebte Ruth Rosenstock dann in Königsberg, das am 7. April von der Roten Armee besetzt wurde, getarnt als polnische Arbeiterin. Später wurde sie Zahntechnikerin und zog mit ihrem Mann in die Nähe von Stuttgart. „Noch immer spielt sie Tennis“, sagt Florian Kubsch, Organisator des Gesprächs, zum Abschluss der gut einstündigen Veranstaltung. Ruth Rosenstock hat auch ein Buch über ihre Geschichte geschrieben. „Die Flucht nach vorne“ ist in der Edition Fischer, Frankfurt/Main erschienen und kostet 15€.