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„Oh süße Lust in frischer Luft den Atem anzuheben“ – Joachim Pfützenreuter zitiert die Zeilen aus dem Gefangenenchor des Fidelio, um auf die tiefe Genugtuung hinzuweisen, die er 2014 empfunden hat. Damals, zum 25. Jubiläum des Mauerfalls, war er wieder in der ehemaligen Haftanstalt Cottbus, wo er 1972 nach seiner Verhaftung gelandet war. Das Staatstheater Cottbus inszenierte Beethovens Oper in den Original-Zellen des DDR- Gefängnisses. „Das war ein erhebender Moment“, sagt der 69jährige heute. 
 Ein Ausflug zu Höhlen
Ein Jahr und sechs Monate saß Pfützenreuter insgesamt in DDR-Haft, teilweise in Zellen mit 16 Personen und nur einem Quadratmeter Bewegungsfläche. Dann aber auch im sogenannten Tigerkäfig, einer vergitterten Zelle ohne Möglichkeit, sich hinzusetzen. „Das Schlimmste ist nicht Hunger, sondern Kälte“, erzählt Pfützenreuter am Montag, 2. Dezember 2019 den Schülern der Klasse 13/2 im Technischen Gymnasium der Gewerblichen Schule. Er habe Verständnis dafür, dass viele Gefangenen nach solchen Qualen irgendwann ein Geständnis unterschrieben oder aber eine Verpflichtungserklärung der Staatssicherheit. „Man wurde überall überwacht und bespitzelt“, sagt Pfützenreuter. Selbst das Beichtgeheimnis war in der DDR offenbar nicht existent. Drohungen, Entwürdigungen und Gewalt waren im DDR-Knast Gang und Gäbe. 
Nach der Hälfte der Haftzeit wurden die DDR-Gefangenen normalerweise von einem Bus aus dem Westen abgeholt. Die Bundesrepublik bezahlte der DDR-Führung pro Häftling 98.400 Mark. Pfützenreuter, der bereits im Auslieferungsknast von Chemnitz auf die Ausreise wartete, wurde aber kurzfristig wieder zurück ins alte Gefängnis geschickt. „Für mich brach eine Welt zusammen“, schildert er diesen Moment, als die nahe Ausreise in den Westen plötzlich abgesagt wurde. „Da bin ich um Jahre gealtert.“ Später erfuhr er, dass er offenbar wegen seiner Tätigkeit als Funker in der Nationalen Volksarmee als Geheimnisträger galt, und deshalb mindestens noch fünf Jahre in der DDR bleiben musste.
Zurück in der alten Haftanstalt, schaltete Pfützenreuter auf stur. Er, der als Katholik von seinen Eltern gelernt hatte, man könne „nur einem Herren dienen“, nämlich Gott, verweigerte nun jegliche Zusammenarbeit.  „Hätt` ich einen Schnürsenkel gehabt, ich hätt`s gemacht“, sagt er einmal an diesem Nachmittag, so groß war seine Verzweiflung. Nach seiner Haftzeit wurde er als „unerziehbar“ entlassen, arbeitete einige Zeit in einem Krankenhaus als Hilfspfleger, ehe er über einen Kontakt zu Herbert Wehner, dem damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden doch noch den Freikauf in den Westen erreichte. 
 
Anschließend machte er in Hannover sein Abitur nach, studierte Sozialarbeit und kam zu Bosch in Reutlingen als betrieblicher Sozialberater.  „Kein Tag ist wie der andere“, schwärmt Pfützenreuter über seine Arbeit. Er, der die menschlichen Abgründe in der DDR studieren konnte, berät heute Menschen mit sozialmedizinischen Anliegen und kann seine Erfahrungen aus der DDR-Zeit nutzen. Auch heute noch arbeitet der 69jährige drei Tage als freier Mitarbeiter für die Firma. „Schweigen geht nicht“, hat er im Knast gelernt: „Entweder man frisst den Kummer in sich rein, dann geht er auf die Organe, oder man lässt ihn raus, dann hört einer mit.“ Das war damals meist die Stasi. Heute hört er zu - und behält die Erkenntnisse für sich.
 
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